Kohle oder Kohlen?

„Du, ich brauch mal wieder Schotter.“ Sebastian flüsterte es seinem Freund Olli zu.

„Pst“, hauchte der zurück, „hier sind Drohnen drin. Mach mal Licht …“

„Verflucht, ich seh nichts, die Funzel ist zu dunkel. Aber hier sind keine drin, bestimmt nicht!“, versicherte Sebastian.

„Die sind überall“, meinte Olli. „Nach draußen können wir auch nicht, da werden wir nicht nur von diesem Mist-Drohnen überwacht, sondern auch noch von den Zombi-Typen, diese Bio-Dinger, die überall versteckt sind. Und bevor du dichs versiehst, greifen sie dich.“

„Aber wo kriegen wir denn jetzt Kohle her?“ Sebastian versuchte, seinen Freund wieder zum brennenden Thema zurückzubringen.

„Na, wir könnten einen echten Menschen einfangen, ihn hier fesseln und knebeln und dann seine Pfote ein bisschen aufschlitzen, um an den Chip ranzukommen“, meinte Olli und kratzte sich an der Stirn.

Sie fuhren zusammen, als die Tür sich plötzlich öffnete und ein Mann eintrat. Nur an seiner monotonen Stimme erkannten sie, dass es ein Biocomputer war, eine programmierte Maschine in einem Retorten-Körper.

„Wo ist der Ofen?“, fragte der Computer und versuchte, eine gewisse Modulation seiner Stimme zu erzielen, was misslang. Die zum Schluß einer Frage erforderliche Anhebung der Tonlage klang leiernd.

Olli kicherte: „Wir brauchen keine Kohlen, wir brauchen Kohle!“

Die Maschine blieb stehen, äugte ihn an, öffnete den Mund und nach einer Weile brachte sie heraus: „Dafür bin ich nicht programmiert.“

Meine Rosenblüte

Juana war von Cristos fasziniert, seine Visionen und seine Kraft weckten etwas in ihr, das sie bis dahin nicht in sich wahrgenommen hatte: Leidenschaft. Ihr Ehemann Luis war sehr viel älter als sie. Auch er hatte Vorzüge. Sie vertraute ihm grenzenlos, und er sorgte sehr zärtlich für sie. Was sie verband, war eine auf Kameradschaft basierende Liebe, mit viel Wärme, das ja, doch Leidenschaft, dieses warme Feuer im Sakralchakra, das entstand das erste Mal hier in diesem Garten, auf der Bank unter den Kletterrosen. Wenn dieser Seeman mit den blitzenden Augen erzählte, wenn er mit zurückgelegtem Kopf lachte, die graublauen Augen leicht zusammengekniffen, sie mit seinem Blick festhaltend, oder wenn er den Arm um ihre Schulter legte, dann glühte es in ihrem Leib.

Die Ehe mit Luis war zu Juanas Leidwesen kinderlos geblieben. Sie hätte gerne Nachwuchs bekommen, schon um die Familienlinie fortzuführen, andererseits liebte sie das Leben bei Hof auch sehr. Ein Kind würde ihr dieses Leben erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Trotzdem hegte sie gewisse Hoffnungen, die dieser unwiderstehliche Abenteurer ihr vielleicht erfüllen könnte.

Meine Rosenblüte“, flüsterte er eben zärtlich an ihrem Ohr, als unvermittelt das Angelus-Läuten einsetzte, für gewöhnlich das Zeichen, dass Juana zu den Kindern zurückzukehren hatte.

Bringst du mich noch zur Tür?“, hauchte sie ebenfalls leise, obwohl niemand in der Nähe war, der sie hätte hören können. Er nickte. Sie standen auf und spazierten gemächlich auf die weiße Doppeltür mit den vielen kleinen Scheiben zu. Er öffnete und hielt den Griff fest, während sie ihn an der anderen Hand fasste und mit sich zog. Dann ließ sie ihn stehen, um mit wenigen schnellen Schritten auf die andere Tür zuzulaufen, die zum Flur führte, von dem aus Maria beim letzten Mal abrupt ihren Plan durchkreuzt hatte. Sie lugte hindurch, es war niemand im dahinterliegenden langen Gang zu sehen. Juana drehte sich zu Cristos um. Er grinste nur. Dann stand sie vor ihm, ihre dunkelbraunen Augen leuchteten mit einem Feuer, das seinen Blick fesselte. Wieder versank er darin bis auf den Grund ihrer Seele.

Als sie ihren Kopf gegen seine Brust sinken ließ, umfasste er ihre Schultern und drückte sie an sich. „Rosenblüte …“, hauchte er wieder an ihrem Ohr. Er schloss die Augen und versank in ihrem Duft.

Gott, ist das schön, dich so zu fühlen.“ Leise, fast schnurrend wie ein Kätzchen, drang Juanas Stimme in sein Bewusstsein. Er drückte sie noch ein wenig fester an sich, und sanft lehnte er seine Wange an ihr Haar. „Dein Duft“, murmelte er, „ich tauche darin ein wie ins Meer. Wenn ich den wahrnehme … das sind Momente, in denen ich alles vergesse …“

Komm“, flüsterte sie ein wenig heiser. Er sah auf. Wollte sie wirklich …? Ohne sich von ihm zu lösen, legte sie ihren Arm um seine Taille. Aufmunternd lächelte sie ihn an, „Komm“, sagte sie noch einmal. Irgendwo klappte eine Tür. Sie zuckten zusammen und lachten dann gemeinsam darüber. Doch plötzlich hatte Juana es eilig. Ein paar Schritte nur, dann waren sie in der Sicherheit und Geborgenheit ihrer Räume. Sie schob den Riegel vor, es würde niemand hereinkommen können. Sie drehte sich um, und er umfing sie. Es war das erste Mal, dass ihre Lippen sich fanden. Seine streichelnden Hände schoben sich unter ihrem Kleid über die Haut. Sie atmete schwerer, half ihm und zerrte dann an seinem Hemd. Ihre Körper erfuhren eine überwältigende Symphonie der Gefühle, die tiefdunkle Leidenschaft fegte über sie hinweg wie ein reinigendes Feuer.

Es blieb nicht bei dieser einen intimen Begegnung.

Sie war so programmiert

„Setzt dich auf“, sagte die Pflegerin zu der Alten, die vor ihr im Bett lag, „setz dich auf.“

„Ich kann nicht“, stöhnte Lenchen, „ich bin zu schwach.“

Setz dich auf“, wiederholte die Pflegerin mit immer noch tonloser Stimme, „du weißt genau, was ich tun muss, wenn du das nicht kannst.“

Lenchen versuchte mühsam mit zusammengepressten Lippen, sich ein wenig auf die Seite zu rollen, um sich dann – vielleicht – mit dem Ellenbogen abstützen zu können, um dann … eventuell würde sie es ja hinbekommen, sich doch noch einmal aufzusetzen.

„Hilf mir doch, warum hilfst du mir nicht?“, fragte sie außer Atem.

„Du weißt, ich darf dich nicht weiter pflegen, wenn du das nicht mehr kannst“, antwortete die Pflegerin. Sie war eine hübsche junge Frau, Anfang zwanzig, so könnte man vermuten. Allerdings war sie bereits seit dreißig Jahren als Pflegerin tätig und sah ebenso lange wie Anfang zwanzig aus. Sie war ein Biocomputer, sie alterte nicht, sie wurde irgendwann abgeschrieben, verschrottet. Die „Hardware“, ihr Körper, würde in der Pflegeheimkantine als Mittagessen Verwendung finden.

Lenchen hatte sich endlich unter Seufzen und Stöhnen am seitlichen Gitter ihres Bettes hochziehen können und saß jetzt erschöpft gegen das Kissen gelehnt da. Sie sah ihre Pflegerin mit einem giftigen Blick an: „Was?“, fragte sie mit ebenso emotionsloser Stimme wie die Pflegerin, „was ist, wenn du mich nicht mehr pflegen darfst?“ Wer genau aufpasste, könnte allerdings die mühsam unterdrückte Wut in Lenchens Stimme heraushören.

„Dann bist du unbrauchbar.“

„Na und? Was dann?“, fauchte Lenchen jetzt.

Die Pflegerin drehte sich um, griff nach dem Waschlappen, befeuchtete ihn und fuhr Lenchen damit übers Gesicht. „Dann wirst du drüben hinter dem Haupthaus zu Bio-Dünger gemacht“, sagte sie mit ihrer emotionslosen, stets gleichbleibenden Stimme und dem immer gleichen freundlichen Lächeln.

Sie war so programmiert.

 

Majestät oder wie?

An einem der nächsten Nachmittage spazierte Cristos auf dem Weg vor dem Castelo de São Jorge auf und ab. Die Burg lag oberhalb der Stadt auf einem Hügel. Ein junger Mann kam aus dem Nebeneingang, in dessen Nähe Cristos patrouillierte. Er nahm seinen Weinschlauch von der Schulter und ließ sich genüsslich den verdünnten Wein, der überall und jederzeit getrunken wurde, in den Mund spritzen. Der andere kam näher. Cristos machte eine einladende Geste, aber der Bedienstete wehrte wortlos ab und ging weiter. Dasselbe wiederholte sich, als ein weiterer Mann erschien. Dann kamen zwei schwatzende Frauen heraus, aber die mochte er nicht mit Wein locken und auch nicht ansprechen. Als dann ein älterer Mann auftauchte, klappte es endlich. „Hallo“, sagte der auf die einladende Geste hin.

„Wie wäre es mit einer Erfrischung?“, fragte Cristos.

„Gerne“, meinte der und blieb stehen. „es ist heiß heute… ich meine nicht nur das Wetter, auch die Stimmung da drin.“ Er deutete auf das Castelo.

„Ah ja?“, sagte Cristos und reichte ihm den Weinschlauch, „scheuchen euch die hohen Herren ordentlich?“

Der Mann nahm einen kräftigen Schluck. „Oh, tut das gut!“ Er wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. „Ja, ich bin froh, dass ich Dienstschluss habe. Übrigens, ich heiße Bonifacio.“

„Ich bin Cristos.“

Der Mann gab den Schlauch zurück, langsam spazierten sie weiter. „Wie ist das denn da drin“, wollte Cristos jetzt wissen, „ich meine, abgesehen von der Stimmung heute. Was machst du dort?

„Ach, ich gehöre zur Garde, da muss ich ja nicht unbedingt etwas tun, meistens nur herumstehen, aber die armen Mädel werden schon arg geschimpft, wenn…“ Er hielt inne. „Ich darf dir das gar nicht erzählen“, sagte er.

„Mach dir keine Sorgen“, beruhigte Cristos ihn, „ich hab nicht mal jemanden, dem ich das weitererzählen könnte.“ Schweigend gingen sie ein paar Schritte, dann meinte er: „Weißt du, was mich wirklich mal interessiert? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man einen echten König anspricht. Muss man sich vor dem verbeugen? Oder wie machen die das?“

Bonifacio lachte: „Ja, kommt drauf an, wenn du dem zuerst vorgestellt wirst, dann solltest du schon deinen Kopf neigen, und vor allem“, fuhr er fort, „nur sprechen, wenn du etwas gefragt wirst.“

„Ja, hm… und wie antwortet man, ich meine, wie redet man zu dem König? Etwa so, wie wir beide miteinander sprechen?“, fragte Cristos.

„Nein“, meinte Bonifacio, „bei den hohen Herren musst du aufpassen, dass du nicht ein Wort zu viel sagst, die haben keine Geduld. Beim König heißt das dann immer Majestät, und bei einem Herzog sagt man Hoheit.“

Cristos reichte noch einmal den Weinschlauch hinüber. „Müsste ich dann beispielsweise sagen: Majestät, kannst du mir mal irgendwas…?“ Er wedelte beim letzten Wort mit der Hand in der Luft herum.

Bonifacio trank, setzte den Stopfen wieder auf den Schlauch und hielt ihn Cristos hin. „Naa“, sagte er, „die wollen mit Ihr und Euch angeredet werden. Du müsstest also sagen: Majestät, wie könnt Ihr nur so grausam… nein, das kann man nicht sagen…“ Er unterbrach sich und überlegte einen Augenblick, dann sagte er: „Majestät, würdet Ihr mir die Gnade erweisen und mir mal irgendwas…“ Er lachte. „So musst du mit ’nem König reden! Immer unterwürfig, das lieben die…“

„Du meinst also, nur sprechen, wenn man gefragt wird und nur kurze Antworten… Aber dann kann man dem ja nichts erzählen! Was, wenn es brennt“, fragte Cristos, „musst du dann auch warten…? Sie lachten gemeinsam.

„Tja, das ist manchmal gar nicht so einfach herauszufinden, wann man was sagen darf oder sogar sagen muss. Man läuft immer Gefahr, seinen Kopf zu verlieren.“ Bonifacio nickte dazu.

„Na, ich glaube, du hast einen recht gefährlichen Beruf“, meinte Cristos. „Das wäre nichts für mich.“

„Ja, ich verstehe schon. Ich bleibe ja auch nur solange hier, bis ich weiß, was ich eigentlich wirklich machen will. Aber bisher ist mir nichts Rechtes eingefallen. Also mal abwarten.“ Bonifacio blieb stehen. „Ich muss jetzt hier entlang, machs gut“, verabschiedete er sich. Sie winkten sich noch einmal zu, dann ging Cristos langsam wieder nach unten Richtung Hafen.

Die Insel der Seligen

Die nächsten Tage und Wochen liefen sie wieder in der Stadt umher, bewaffnet mit ihren Karten, die sie auf dem Boden oder auf Kirchentreppen ausbreiteten, um sie miteinander zu vergleichen. „Hier, auf dieser Karte ist die Insel der Seligen eingezeichnet“, sagte Francisco eben.

„Uih“, sagte Rodrigo plötzlich und pfiff durch die Zähne, „da läuft ja die Tochter vom Perestrello!“

Cristos hob ruckartig den Kopf, er sah sich um. „Wo?“, fragte er. „Die da…“ Rodrigo zeigte mit einem Kopfnicken in die Richtung. Cristos sah nur ein schmales, dunkelhaariges Wesen, das die Straße hinab eilte. „Ich komm gleich wieder“, rief er den Freunden zu und beeilte sich, sie einzuholen. Jetzt ging er zwei Schritte hinter ihr. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber er traute sich auch nicht näher heran. „Mal sehen, wo sie hingeht“, dachte er.

An das Gebiet um den Hafen herum grenzte der Bezirk des Klosters Santos e Velho, in dem etliche Kirchen standen. Das junge Mädchen eilte die drei Stufen zu einer der Kirchen, die allesamt zu Ehren der drei Märtyrerinnen Verissimo, Maxima und Júlia erbaut worden waren, hinauf und verschwand im Inneren. Cristos setzte ihr nach. Der Vespergottesdienst begann eben. Im Halbdunkel suchte er sich einen Platz zwei Bänke hinter ihr, so dass er sie schräg seitlich im Blickfeld hatte. Vielleicht konnte er ihr Gesicht sehen? Wie verzaubert hingen seine Augen an ihr, ließen sie nicht mehr los. Als sie sich erhob, konnte er einen Moment lang ihren Blick einfangen. Sein Herz machte einen Sprung. Dann schob sich eine dicke alte Frau an ihm vorbei. Und als er wieder nach dem Mädchen sehen wollte, war es verschwunden. Ein wenig war er enttäuscht, aber doch auch glücklich. Langsam ging er zu den Freunden zurück, die von der Kirchentreppe wieder zum Hafenplatz gewechselt waren.

„Na, was gab es denn so Dringendes“, fragte Rodrigo. Cristos seufzte nur selig auf. Dann meinte er: Ich glaube, ich bin dran, den Wein zu besorgen. Ich bin gleich wieder zurück.“ Er mochte jetzt nicht reden…

Es dauerte lange, bis er an diesem Abend mit seinem Weinschlauch bei den Freunden auftauchte.

„Was weißt du denn von der Insel der Seligen?“, fragte Francisco ihn.

„Ach die … die ist … so süß.“

„Waas?“, fragte Fabião. „Insel, Mann, wir reden von einer Insel! Wo bist du denn?“

Cristos kam in das Jetzt zurück. „Och nirgends, ich glaub, ich hab geträumt!“ Er schwieg lieber und hing seinem Gefühl nach. Irgendetwas in seinem Inneren fühlte sich so verheißungsvoll an. Er schwebte wie auf einer Wolke.

Am nächsten Abend wartete er an derselben Stelle, an der er das Mädchen am Vortag zuerst gesehen hatte. Und richtig, sie tauchte zur selben Zeit auf. Wieder schlich er hinter ihr drein, saß in der Kirche auf demselben Platz wie schon vorher. Seine Augen hingen an ihr. Als sie ihn beim Hinausgehen unbeabsichtigt für einen Moment ansah, war sie fasziniert von seinem entrückten Lächeln. Sie tat aber, als hätte sie ihn gar nicht bemerkt, senkte den Blick und eilte davon. Cristos sah ihr nach. An diesem Abend warteten die Freunde vergeblich auf ihn, er musste einfach allein sein.

Auch die nächsten Abende mussten die Freunde ohne ihn verbringen. Cristos wartete hinter der Hausmauer versteckt auf sie, ging ihr nach, setzte sich immer in die gleiche Bank, weil auch sie stets den gleichen Platz innehatte. Und danach spazierte er langsam und in Gedanken versunken am Tejo entlang. Er sah auf die Lichter der Schiffe, sah von fern die Feuer im Hafen, er stand und vergaß die Zeit, vergaß alles um sich herum. Cristos versank in seligem Gefühl. Ihre Augen, wenn sie ihn zufällig ansah, ihre helle Haut, die schwarzen Haare – sie war schön, und sie war süß, das süßeste Geschöpf, das sich einer nur vorstellen kann! Sein Herz hüpfte und sang, dann wieder klopfte es schwer in seiner Brust. Dieses tiefe, tiefe, abgrundtiefe süße Gefühl, das ihn ausfüllte… Es war pure Seligkeit.

Nein, er konnte im Moment wirklich nicht bei den Freunden sein. Ihr Geplapper, es kam ihm hohl vor, leer, es erzeugte nicht annähernd ein solches Gefühl in ihm, nicht diese Freude, dieses verheißungsvolle Unbenennbare in seinem Innern. Seine Sehnsucht hatte einen Namen: …

Mit Erstaunen stellte er fest, dass er nicht einmal ihren Vornamen kannte. Das musste sofort geändert werden!

Am nächsten Abend ging er nicht mehr zwei Schritte hinter ihr, er holte auf, ging neben ihr, dann wagte er einen Schritt vor, stellte sich vor sie hin, versperrte ihr den Weg. „Hallo“, krächzte er. Etwas presste ihm den Hals zu. Sie wollte weitergehen, an ihm vorbei, aber er hielt ihren Arm. „Warte…“ Er räusperte sich, seine Stimme wurde fester. „Wie heißt du?“, fragte er.

„Felipa.“ Sie errötete.

„Ich bin Cristos, und ich möchte dich gern kennenlernen.“

Sie machte eine abwehrende Bewegung. „Nicht hier, komm in die Kapelle des Convento de Santos, da bete ich jeden Nachmittag“, sagte sie schnell, riss sich los und eilte die Stufen zur Kirche hinauf. Cristos stand einfach nur still da. Ihm war ganz schwindelig vor Freude. „Sie hat ja gesagt“, dachte er. „Na, jedenfalls hat sie nicht nein gesagt.“ Mit Riesenschritten eilte er jetzt ebenfalls in die Kirche, setzte sich und schloss die Augen. Er konnte sein Glück kaum fassen. Und wenn er die Augen öffnete, sah er sie. Und er sah auch, dass sie hier und da ihr Gesicht zu ihm wendete. Sie versuchte, es heimlich zu tun. Er sollte es nicht sehen. Das war allerdings unmöglich, denn sein Blick hing an ihr. Felipa war hingerissen von seinem inneren Leuchten. Er strahlte nur so. So etwas hatte sie noch nie bei einem Menschen gesehen.

Nach der Vespermesse musste er die Freunde sehen, unbedingt, er platzte beinahe vor Glück. Mit einem Schlauch Wein und zwei Holzkloben unter dem Arm ging er zum Hafen hinunter.

„Ah, sieh mal einer an, da bist du ja wieder“, Francisco sah ihn forschend an. „Was ist dir denn passiert?“

„Warum? Was ist denn?“, fragte Cristos erstaunt.

„Na, du strahlst ja so wie eine Festbeleuchtung im Schloss.“ Francisco sah sich nach Rodrigo um, der auch gerade mit Holz unterm Arm herankam. „Findest du nicht“, fragte er, „dass Cristos irgendwie total verändert aussieht?“

Cristos lachte und hob die Hände wie zur Abwehr über den Kopf: „Gut, gut, ich sags euch einfach. Ich habe mich verliebt!“

Francisco wurde ganz still. Er holte tief Luft und seufzte: „Wunderschön, ach, wie ich dich beneide!“ Auch Rodrigo seufzte: „Ach ja, bei mir ist schon so lange nichts mehr gelaufen… Hast du das gut!“

Als Bartholomé kam, sah er Cristos forschend an: „So kenne ich dich ja gar nicht. Was ist denn mit dir passiert?“, fragte er erstaunt. Alle lachten. „Er hat sich verliebt“, grinste Rodrigo. Cristos seufzte nur selig und lachte. Bartholomé legte seinen Arm um seines Bruders Hals und drückte ihn ganz fest. „Willst du mich umbringen?“, röchelte der lachend, „ich werde noch gebraucht!“ Und dann machte der Schlauch mit Wein die Runde. „Zur Feier des Tages hab ich mal den richtig Guten gekauft. Lasst es euch schmecken.“

Belogen oder betrogen?

Felipa stand am Fenster, als Cristos das Haus betrat. Sie weinte.

Felipa…“, begann er.

Du Scheusal“, fuhr sie ihn an. Ihre Stimme wurde lauter: „Wie kannst du es wagen…!“

Felipa…“, setzte er erneut an, unterbrach aber, als sie drohend auf ihn zu kam. „WAS?“, fragte sie mit blitzenden Augen, „willst du mich jetzt weiterhin belügen?“

Felipa, ich hab dir nicht die Wahrheit gesagt, weil ich wusste, du würdest es nicht wollen. Aber ich muss einfach diese Aufzeichnungen von deinem Vater lesen. Es hängt so viel davon ab, dass ich jeden Hinweis aufnehme, der zur Verfügung steht.“ Cristos griff nach ihren Oberarmen, hielt sie fest, aber sie riss sich los, ging wieder ans Fenster. „Sag mir nur eins“, weinte sie, „hast du…“ Sie stockte, wagte nicht, es ganz auszusprechen. Cristos trat hinter sie, legte seine Hände auf ihre Schultern und sagte fest: „Nein, Felipa, ich habe nicht, und ich würde auch niemals…“ Sie drehte sich um, sah ihn unter Tränen an: „Wie kann ich dir glauben, du hast mich belogen!“

Felipa, ich habe aus Not geschwindelt, weil ich dich nicht beunruhigen wollte. Aber ich habe wirklich niemals die Absicht gehabt, mich auf deine Mutter einzulassen, egal, was sie getan hat. Ich habe mich offen auf die Veranda gesetzt, damit jedermann mich sehen kann, damit niemand jemals auf die Idee kommen könnte, ich hätte irgendetwas mit meiner Schwiegermutter angefangen.“ Er zog sie an seine Brust. „Felipa, ich verstehe deinen Ärger, bitte, sei mir wieder gut. Ich hab wirklich nichts mit deiner Mutter im Sinn. Es geht mir nur um die Aufzeichnungen deines Vaters. Kannst du das nicht verstehen? Seine Stimme schmeichelte, er wusste, sie war zu Recht erbost.

Felipa wand sich aus seinen Armen. „Du meinst, du kannst dein Verhalten damit entschuldigen, dass du irgendwelche Bücher lesen musst?“, fragte sie höhnisch. „Wer sagt denn, dass du irgendwas musst?“, schleuderte sie ihm entgegen, „wer behauptet, du müsstest über den Atlantik fahren? Das ist doch nur etwas, was du willst. Und es geht immer nur um dich und um das, was du willst.“ Sie schluchzte wieder laut auf, dann presste sie ein Taschentuch gegen ihren Mund, wischte sich energisch die Tränen ab und sagte tonlos: „Ich will wieder nach Lissabon. Ich kann hier nicht mehr leben. Ich kann dir nicht mehr trauen.“ Sie presste die Lippen zusammen.

Cristos stand einen Augenblick wie versteinert, damit hatte er nicht gerechnet. Dann sagte er: „Gut, ziehen wir eben wieder nach Lissabon, mir ist das recht.“ Nach einem Augenblick des Schweigens meinte er: „Merke dir aber, das tun wir, weil DU das jetzt willst.“ Sie schwieg. Cristos starrte auf den Boden, dann atmete er tief durch, ging wieder einen Schritt auf sie zu und sagte: „Es tut mir leid, Felipa, ich hätte dich nicht belügen sollen, aber ich wusste mir keinen Rat.“

Sag mir die Wahrheit, Cristos, hast du meine Mutter angefasst?“, fragte Felipa jetzt merklich sanfter, aber sehr eindringlich. „Wie soll ich dir jemals wieder trauen, wenn du mich noch einmal anschwindelst?“

Cristos nahm sie in seine Arme, schob seine Hand unter ihr Kinn, hob es an, damit sie in seine Augen sehen musste und sagte fest und sehr überzeugend: „Liebes, ich habe niemals auch nur einen Gedanken an irgend eine andere Frau verschwendet. Ich habe niemals deine Mutter angefasst, nicht mit meinen Händen und bestimmt auch niemals in Gedanken. Das schwöre ich!“

Endlich wurde Felipa weicher. Sie legte ihre Stirn an seine Brust und seufzte noch einmal abgrundtief auf. „Ich will trotzdem nach Lissabon zurück“, sagte sie, „du bist ja nie für mich da. Ich langweile mich noch zu Tode. In Lissabon habe ich wenigstens Freundinnen.“

Wie bringe ich ihn bloss dazu…

Cristos kam einige Tage später von seiner Fahrt zurück, die ihn diesmal nach Ceuta geführt hatte. Er war also nicht so lange unterwegs gewesen. Als sie sich trafen, wie immer hinter der Kapelle des Conventos de Santo, schloss er sie in die Arme und drückte sie an sich. Aber Felipa machte sich steif und schob ihn von sich.

Cristos“, sagte sie und senkte den Kopf, „mein Vater ist gestorben.“

Cristos starrte sie einen Augenblick sprachlos an. Er sah ihren noch immer gesenkten Kopf. Weinte sie? „Es tut mir leid, das zu hören“, murmelte er, während er sie erneut in seine Arme zu ziehen versuchte, doch sie wehrte wieder ab.

Nein, nicht…“ Felipa zupfte an ihrem Taschentuch herum, dann wischte sie sich damit über die Augen. Cristos hatte noch immer ihre beiden Arme umfasst. „Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Ich glaube, es ist das Beste, ich gehe ins Kloster“, hauchte sie. Dann sah sie ihn kurz an. Cristos war verblüfft. „Ins Kloster“, echote er, „du willst ins Kloster gehen?“ Er konnte es nicht fassen, sie war doch seine Sehnsucht, sein Traum, trank all sein Gefühl. Sie konnte nicht hinter Mauern verschwinden, unerreichbar für ihn. Er brauchte sie.

Liebes, du kannst nicht in ein Kloster gehen!“

Warum nicht? Ich weiß doch nicht, was ich sonst machen soll.“

Heirate mich.“ Selbst überrascht von dieser Aussage, blickte er verblüfft auf sie hinunter.

Aber…“ sie suchte nach Worten, „aber das will ich nicht“, sagte sie tapfer, „ich will nicht aus Mitleid geheiratet werden!“

Aber doch nicht aus Mitleid! Felipa!“, rief er aus. „Ich liebe dich! Ich hab’s dir schon so oft gesagt. Wann glaubst du mir endlich?“

Ja?“, hauchte sie. „Vielleicht ginge das eventuell.“

Felipa, was soll ich machen? Willst du, dass ich mich hier auf die Knie werfe und dich anflehe?“ Cristos rüttelte an ihren Armen. „Willst du das?“

Ja, würdest du das machen?“ Sie lächelte mit einer Träne im Auge. „Würdest du das wirklich tun?“

Sofort ließ er sie los, kniete vor ihr nieder und sagte andächtig und mit Inbrunst: „Felipa Perestrello, würdest du mir die Ehre geben und meine Frau werden?“ Er fasste nach ihren Händen.

Ein wenig verschämt, aber glücklich strahlend zog Felipa ihn hoch, kuschelte sich in seine Arme und hauchte: „Ja, wenn du das wirklich willst…“

Cristos drückte sie fest an sich, hielt sie fest, damit kein böses Schicksal ihm seine Sehnsucht, seine Verheißung, nehmen konnte. Dann fasste er ihr Gesicht mit seinen großen, warmen Händen, küsste ihre Augen, ihre Stirn, die süße, kleine Nase, die Wangen, knabberte an ihren Ohrläppchen und endlich fand er ihre Lippen und küsste sie innig.

Die Pflicht zu leben…?

Wegbegrünung in Braun 2

Ich habe gestern ein Video gesehen, Die Magie des Lebens – Guzzaarish. In diesem Film ging es darum, dass ein Mann, der vom Hals abwärts gelähmt war, einen Antrag vor Gericht stellte, dass er Sterbehilfe erhält.

„Der Antrag ist verfassungwidrig“, wurde im Film gesagt, ein Gericht kann niemanden ermächtigen, seinem Leben aus freien Stücken ein Ende zu setzen. Daher verweigert das Gericht die Unterstützung….“

Die Geschichte hat mich ziemlich aufgewühlt und lange am Einschlafen gehindert. Mir stellte sich die Frage:

Hat einer mit dem Recht auf Leben auch gleichzeitig die PFLICHT zu leben?

Haben wir mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung auch gleichzeitig die Pflicht, unsere Meinung zu äußern? Es ist nur ein anderes Recht, im Prinzip dasselbe, wie das Recht zu leben, das die in der Verfassung festgeschriebenen Menschenrechte uns garantieren.

Ja zum Leben bedeutet aber auch, ja zum Tod zu sagen, denn der Tod ist ein Teil des Lebens. Nur wer sich vor dem Sterben fürchtet, meint, dass jeder andere das auch tun müsste. Aber wer zu einem gesteigerten Bewusstsein gefunden hat, der weiß, dass das Leben in einem Körper auf der Erde nichts weiter als ein Schauspiel auf einer materiellen Bühne ist. Wir bewohnen den Körper auf Zeit. Und wenn das Stück ausgespielt ist, dann kommen wir wieder in einer anderen Umgebung in einem anderen Körper. Wo liegt das Problem, wenn jemand sein Stück beenden will, bevor der Körper den Geist aufgibt? Hat nicht jeder das Recht auf Leben, was doch auch das Recht auf das Ende dieses Lebens ist.

Im Film wurde damit argumentiert, dass Gott wolle, dass der Mensch lebt. Wer will schon behaupten zu wissen, was Gott will, und was er vorhat mit uns? Hat er überhaupt etwas vor? Wenn einer sich quält, dann kann das doch nicht wirklich eines gütigen Gottes Wille sein, oder? Wenn dieser Gott uns wirklich zur Qual verurteilt und uns einfach dabei zusehen sollte, dann wäre das kein gütiger Gott sondern ein Sadist.

In Wahrheit ist es Gott völlig egal, was du machst oder nicht machst. Er hat dich losgelassen, damit du völlig frei deine Erfahrungen machen kannst. Das Leben in einem behinderten Körper setzt den Erfahrungen sicherlich enge Grenzen. Immer die gleichen Erfahrungen zu machen, scheint nutzlos. Nach einer gewissen Zeit reicht es. Aber alle Menschen versuchen, dir zu erzählen, dass du damit fortfahren sollst, und jeder hat sehr eigennützige Gründe dafür. Das ist Schwachsinn. Sie reden aus ihrer Gesundheit und ihrer eigenen Angst heraus und versuchen, dich in ihrem Bewusstsein zu halten. Du hast dasselbe zu glauben wie sie, sonst müssten sie ihren Glauben ja überdenken. Das bringt viel Neues mit sich, was unbequem ist. Also versuchen sie, dich dazu zu bringen, ihren Glauben zu bestätigen.

Das Wort Selbstmord impliziert bereits Unrecht. Auch Selbsttötung hat noch den „Geruch“ von Unrecht… Einer, der beschließt, unter den gegebenen Umständen nicht mehr weitermachen zu wollen, verdient Respekt. Und wenn er seinen Körper nicht mehr bewegen kann, um sich einen Strick um den Hals zu legen, sollte wenigstens das Recht haben, dass jemand ihm diese Hände ersetzt. Das ist meine Meinung.

„Der Antrag ist verfassungwidrig“, wurde im Film gesagt, ein Gericht kann niemanden ermächtigen, seinem Leben aus freien Stücken ein Ende zu setzen. Daher verweigert das Gericht die Unterstützung….“

Aus freien Stücken… das bedeutet, dass jeder ohne gerichtliche Ermächtigung aus freien Stücken seinem Leben ein Ende setzen kann, nur der, der keine Macht mehr über seinen Körper hat, kann das nicht. Und das Gericht ist nicht bereit, die Gesetze außer Kraft zu setzen, die diejenigen bestrafen werden, die dem Sterbewilligen die bewegungslosen Hände ersetzen wollen.

Die Verfassung garantiert jedem das Recht auf Leben.

Doch muss das zwangsläufig auch bedeuten, dass jeder, ob er will oder nicht, die PFLICHT hat, ein als nicht mehr lebenswert empfundenes Leben weiterzuführen und zu leiden bis zur letzten Minute?

Hat der Gesetzgeber oder ein Richter das Recht, jemanden ohne Verschulden zu einem Leben zu verdammen, das derjenige im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte zu beenden wünscht? Wie steht es mit dem Recht auf ein selbstbestimmtes Ende seines Lebens? Wem gehört das Leben? Dem Gesetzgeber? Der sollte wohl nur das regeln, was im allgemeinen Interesse ist. Ist ein selbstbestimmter Freitod eines Menschen, der nicht mehr Herr im eigenen Körper ist, etwas, was die Allgemeinheit tangiert? Oder ist Sterben nicht eine absolut persönliche und private Angelegenheit? Wie kann sich der Gesetzgeber erdreisten, etwas, was weder die Allgemeinheit angeht noch irgendwie betrifft, zu regeln und Menschen, die auf jede erdenkliche Hilfe angewiesen sind, derart zu bevormunden und zu gängeln und zu einem Dasein zu verurteilen, das sie nicht verdient haben und nicht mehr wollen.

Das Gericht verweigert einem Behinderten die Unterstützung. …

Das Recht auf ein selbstbestimmtes Ende zu verweigern, bedeutet, jemanden zu betrafen, der doch mit dem Leid bereits mehr als genug bestraft ist. Ich empfinde ein solches Leben als Strafe, wenn man es weiterleben muß.

Wie könnte man sich arrangieren mit den verständlichen Wünschen auf Sterbehilfe?

Respekt ist wohl die notwendige Voraussetzung, wenn man an dieser Gesetzgebung etwas ändern will, Respekt vor dem Wunsch des einzelnen, das Ende seines Schauspiels auf Erden selber zu bestimmen. Es wissen leider nur zu wenige, dass sie den Körper einfach so verlassen können, also müssen wir immer noch den Körper zerstören, um die Seite zu wechseln.

Man könnte vielleicht Gremien einrichten, die darüber befinden, ob der Sterbewillige wirklich seinen Tod wünscht oder ob man ihm irgendeine Art von Hilfe anbieten könnte, an die er selber bisher nicht gedacht hat. Vielleicht bleibt auch zu prüfen, ob der Mensch wirklich weiß, was er da zu tun gedenkt oder ob es ein unbewusster Hilferuf ist. Dann wäre noch zu prüfen, ob der Todeswunsch unter dem Einfluss anderer Personen entstanden sein könnte. Wenn aber klar ist, dass all das nicht in Frage kommt, dann sollte es für jeden Menschen, ob gesund oder krank, der den Wunsch zu sterben hat, die Möglichkeit geben, dies auch mit den günstigsten Mitteln zu erreichen, d. h. Medikamente, die einen raschen und schmerzlosen Tod garantieren. Auch eine Selbsttötung kann – wie zuletzt im Film – mit einer fröhlichen Feier enden. Jeder Tod sollte würdig stattfinden, menschenwürdig. Einen Kranken bis zum körperlichen Verfall gegen seinen Willen mit allen Mitteln am Leben zu erhalten, ist krank, und zwar von denjenigen, die sich vor dem Tod fürchten und diese Furcht verdrängen und deshalb andere Menschen zu einem unwürdigen Dasein verdammen, statt den Tod als einen Abschluss des Lebens zu feiern!