Die nächsten Tage und Wochen liefen sie wieder in der Stadt umher, bewaffnet mit ihren Karten, die sie auf dem Boden oder auf Kirchentreppen ausbreiteten, um sie miteinander zu vergleichen. „Hier, auf dieser Karte ist die Insel der Seligen eingezeichnet“, sagte Francisco eben.
„Uih“, sagte Rodrigo plötzlich und pfiff durch die Zähne, „da läuft ja die Tochter vom Perestrello!“
Cristos hob ruckartig den Kopf, er sah sich um. „Wo?“, fragte er. „Die da…“ Rodrigo zeigte mit einem Kopfnicken in die Richtung. Cristos sah nur ein schmales, dunkelhaariges Wesen, das die Straße hinab eilte. „Ich komm gleich wieder“, rief er den Freunden zu und beeilte sich, sie einzuholen. Jetzt ging er zwei Schritte hinter ihr. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber er traute sich auch nicht näher heran. „Mal sehen, wo sie hingeht“, dachte er.
An das Gebiet um den Hafen herum grenzte der Bezirk des Klosters Santos e Velho, in dem etliche Kirchen standen. Das junge Mädchen eilte die drei Stufen zu einer der Kirchen, die allesamt zu Ehren der drei Märtyrerinnen Verissimo, Maxima und Júlia erbaut worden waren, hinauf und verschwand im Inneren. Cristos setzte ihr nach. Der Vespergottesdienst begann eben. Im Halbdunkel suchte er sich einen Platz zwei Bänke hinter ihr, so dass er sie schräg seitlich im Blickfeld hatte. Vielleicht konnte er ihr Gesicht sehen? Wie verzaubert hingen seine Augen an ihr, ließen sie nicht mehr los. Als sie sich erhob, konnte er einen Moment lang ihren Blick einfangen. Sein Herz machte einen Sprung. Dann schob sich eine dicke alte Frau an ihm vorbei. Und als er wieder nach dem Mädchen sehen wollte, war es verschwunden. Ein wenig war er enttäuscht, aber doch auch glücklich. Langsam ging er zu den Freunden zurück, die von der Kirchentreppe wieder zum Hafenplatz gewechselt waren.
„Na, was gab es denn so Dringendes“, fragte Rodrigo. Cristos seufzte nur selig auf. Dann meinte er: Ich glaube, ich bin dran, den Wein zu besorgen. Ich bin gleich wieder zurück.“ Er mochte jetzt nicht reden…
Es dauerte lange, bis er an diesem Abend mit seinem Weinschlauch bei den Freunden auftauchte.
„Was weißt du denn von der Insel der Seligen?“, fragte Francisco ihn.
„Ach die … die ist … so süß.“
„Waas?“, fragte Fabião. „Insel, Mann, wir reden von einer Insel! Wo bist du denn?“
Cristos kam in das Jetzt zurück. „Och nirgends, ich glaub, ich hab geträumt!“ Er schwieg lieber und hing seinem Gefühl nach. Irgendetwas in seinem Inneren fühlte sich so verheißungsvoll an. Er schwebte wie auf einer Wolke.
Am nächsten Abend wartete er an derselben Stelle, an der er das Mädchen am Vortag zuerst gesehen hatte. Und richtig, sie tauchte zur selben Zeit auf. Wieder schlich er hinter ihr drein, saß in der Kirche auf demselben Platz wie schon vorher. Seine Augen hingen an ihr. Als sie ihn beim Hinausgehen unbeabsichtigt für einen Moment ansah, war sie fasziniert von seinem entrückten Lächeln. Sie tat aber, als hätte sie ihn gar nicht bemerkt, senkte den Blick und eilte davon. Cristos sah ihr nach. An diesem Abend warteten die Freunde vergeblich auf ihn, er musste einfach allein sein.
Auch die nächsten Abende mussten die Freunde ohne ihn verbringen. Cristos wartete hinter der Hausmauer versteckt auf sie, ging ihr nach, setzte sich immer in die gleiche Bank, weil auch sie stets den gleichen Platz innehatte. Und danach spazierte er langsam und in Gedanken versunken am Tejo entlang. Er sah auf die Lichter der Schiffe, sah von fern die Feuer im Hafen, er stand und vergaß die Zeit, vergaß alles um sich herum. Cristos versank in seligem Gefühl. Ihre Augen, wenn sie ihn zufällig ansah, ihre helle Haut, die schwarzen Haare – sie war schön, und sie war süß, das süßeste Geschöpf, das sich einer nur vorstellen kann! Sein Herz hüpfte und sang, dann wieder klopfte es schwer in seiner Brust. Dieses tiefe, tiefe, abgrundtiefe süße Gefühl, das ihn ausfüllte… Es war pure Seligkeit.
Nein, er konnte im Moment wirklich nicht bei den Freunden sein. Ihr Geplapper, es kam ihm hohl vor, leer, es erzeugte nicht annähernd ein solches Gefühl in ihm, nicht diese Freude, dieses verheißungsvolle Unbenennbare in seinem Innern. Seine Sehnsucht hatte einen Namen: …
Mit Erstaunen stellte er fest, dass er nicht einmal ihren Vornamen kannte. Das musste sofort geändert werden!
Am nächsten Abend ging er nicht mehr zwei Schritte hinter ihr, er holte auf, ging neben ihr, dann wagte er einen Schritt vor, stellte sich vor sie hin, versperrte ihr den Weg. „Hallo“, krächzte er. Etwas presste ihm den Hals zu. Sie wollte weitergehen, an ihm vorbei, aber er hielt ihren Arm. „Warte…“ Er räusperte sich, seine Stimme wurde fester. „Wie heißt du?“, fragte er.
„Felipa.“ Sie errötete.
„Ich bin Cristos, und ich möchte dich gern kennenlernen.“
Sie machte eine abwehrende Bewegung. „Nicht hier, komm in die Kapelle des Convento de Santos, da bete ich jeden Nachmittag“, sagte sie schnell, riss sich los und eilte die Stufen zur Kirche hinauf. Cristos stand einfach nur still da. Ihm war ganz schwindelig vor Freude. „Sie hat ja gesagt“, dachte er. „Na, jedenfalls hat sie nicht nein gesagt.“ Mit Riesenschritten eilte er jetzt ebenfalls in die Kirche, setzte sich und schloss die Augen. Er konnte sein Glück kaum fassen. Und wenn er die Augen öffnete, sah er sie. Und er sah auch, dass sie hier und da ihr Gesicht zu ihm wendete. Sie versuchte, es heimlich zu tun. Er sollte es nicht sehen. Das war allerdings unmöglich, denn sein Blick hing an ihr. Felipa war hingerissen von seinem inneren Leuchten. Er strahlte nur so. So etwas hatte sie noch nie bei einem Menschen gesehen.
Nach der Vespermesse musste er die Freunde sehen, unbedingt, er platzte beinahe vor Glück. Mit einem Schlauch Wein und zwei Holzkloben unter dem Arm ging er zum Hafen hinunter.
„Ah, sieh mal einer an, da bist du ja wieder“, Francisco sah ihn forschend an. „Was ist dir denn passiert?“
„Warum? Was ist denn?“, fragte Cristos erstaunt.
„Na, du strahlst ja so wie eine Festbeleuchtung im Schloss.“ Francisco sah sich nach Rodrigo um, der auch gerade mit Holz unterm Arm herankam. „Findest du nicht“, fragte er, „dass Cristos irgendwie total verändert aussieht?“
Cristos lachte und hob die Hände wie zur Abwehr über den Kopf: „Gut, gut, ich sags euch einfach. Ich habe mich verliebt!“
Francisco wurde ganz still. Er holte tief Luft und seufzte: „Wunderschön, ach, wie ich dich beneide!“ Auch Rodrigo seufzte: „Ach ja, bei mir ist schon so lange nichts mehr gelaufen… Hast du das gut!“
Als Bartholomé kam, sah er Cristos forschend an: „So kenne ich dich ja gar nicht. Was ist denn mit dir passiert?“, fragte er erstaunt. Alle lachten. „Er hat sich verliebt“, grinste Rodrigo. Cristos seufzte nur selig und lachte. Bartholomé legte seinen Arm um seines Bruders Hals und drückte ihn ganz fest. „Willst du mich umbringen?“, röchelte der lachend, „ich werde noch gebraucht!“ Und dann machte der Schlauch mit Wein die Runde. „Zur Feier des Tages hab ich mal den richtig Guten gekauft. Lasst es euch schmecken.“